Respekt verloren?

Respekt verloren?

 

Frage: Hat mein Sohn den Respekt vor mir verloren?

Beschreibung der Situation: Wenn ich mit meinem zweieinhalbjährigen Sohn schimpfe, macht er ein böses Gesicht, scheint nicht beeindruckt und macht nicht, was ich ihm sage. Er spricht dann lange nicht mehr mit mir, sein Gesichtsausdruck ist abweisend, als ob er mich strafen wolle. Ich muss mich ihm nähern, damit die Situation wieder entspannt wird. Ich biete ihm dann ein Spiel an oder sonst etwas, das er gerne hat. Er willigt dann sofort ein und wir verstehen uns wieder bestens. Es kommt mir so vor, als müsste ich ihn um Verzeihung bitten, nicht er mich. Er hat ja jeweils etwas gemacht, von dem er genau weiss, dass er es nicht sollte.

Früher war es anders: Wenn ich nicht mit ihm zufrieden war, weinte er und liess sich gerne trösten und machte die Sache dann so, wie ich es ihm gesagt hatte.

Mir macht die neue Entwicklung grosse Sorgen. Wie soll das weitergehen, wenn er jetzt schon den Respekt vor mir verloren hat?

Antwort: Sie können beruhigt sein, Ihr Sohn hat den Respekt vor Ihnen nicht verloren. Früher weinte er, wenn Sie mit ihm schimpften. Es schmerzte ihn und er kriegte Angst, wenn Sie mit ihm unzufrieden oder böse auf ihn waren.

Jetzt hat er etwas Neues entdeckt. Er hat gemerkt, dass er die Angst – notabene ein sehr unangenehmes Gefühl – umgehen kann, sozusagen mit einem cleveren Trick: Er wechselt einfach kurz die Rollen und es funktioniert! Er schlüpft in Ihre Rolle, er darf jetzt böse sein, und Sie dürfen seine Rolle übernehmen – Sie dürfen nun Angst haben. Und nicht genug damit, Sie werden in dieser Rolle zum „Sünder“. Eine Entschuldigung und etwas Bemühungen von Ihrer Seite sind da nur angebracht!

Dieser Rollen-Switch ist ein auch von Erwachsenen sehr häufig verwendeten Abwehrmechanismus: Die Identifikation mit dem Aggressor. (Eine ausführliche Erklärung finden Sie im gleichnamigen Artikel)

Sie können Ihrem Sohn helfen, diese Angstabwehr rückgängig zu machen, indem sie sofort zu ihm gehen, wenn er ein böses Gesicht macht und ihm sagen: „Jetzt hast Du aber mächtig Angst gekriegt vor mir, Du machst ja ein so böses Gesicht wie ich vorhin. Ich bin aber gar nicht mehr böse auf dich.“ Erklären Sie ihm, weshalb Sie sein Verhalten von vorhin nicht schätzten oder weshalb sie etwas von ihm verlangten. Erklären Sie den Sinn Ihrer Regeln. Dann stellen Sie zusammen fest, dass nun wieder alles geklärt ist und Sie können es wieder friedlich zusammen haben.

Machen Sie sich zur Regel, gerade den kleinen Kindern – auch schon den Säuglingen – bei jeder Gelegenheit zu erklären, weshalb Sie etwas machen, etwas wollen oder etwas eben nicht wollen. Unsere Kinder verstehen ja die Welt noch nicht aus unserem Blickwinkel und erleben das Handeln von uns Eltern als Willkür. Es fällt den Kindern leichter, den Eltern zu gehorchen, wenn sie den Grund kennen. Es ist wichtig, unangenehme Gefühle wie Angst, Eifersucht und Zorn beim Namen zu nennen, sie nicht einfach zu ignorieren. Die Kinder fühlen sich dadurch verstanden, aufgehoben und lernen, diese Gefühle bei sich und andern viel klarer zu erkennen und zu akzeptieren.

 

 

Elisabeth Geiger 2009