Mutter als Polizist

Mutter als Polizist

Frage: Mein 16-jähriger Sohn, mit dem ich es bis jetzt immer ganz schön hatte, wendet sich seit Neuestem in aggressivster Weise gegen mich. Muss ich das einfach aushalten?

Beschreibung der Situation: Ich finde, es ist normal, dass man in der Familie sagt, wohin man geht und wann man voraussichtlich zurück ist. So war es bis jetzt. Nun greift mich mein Sohn auf das Härteste an, wenn ich ihn frage, mit wem und wohin er in den Ausgang gehe und wann er zurück sei. Er findet, es gehe mich nichts an, ich kontrolliere ihn immer, die ganze Familie leide unter meinem Regime uns so weiter. Neu ist auch, dass er die ganze Zeit mit einem übellaunigen Ausdruck herumläuft, mich kaum mehr begrüsst und die freien Tage herumhängend verbringt. Alle sagen, er pubertiert eben, das musst Du durchstehen. Ich bin aber nicht gewillt, mich so schlecht behandeln zu lassen!

Antwort: Sie haben vollkommen recht, das müssen Sie – und auch der Jugendliche – nicht ertragen! Es ist ja auch für ihn ganz schlimm, wenn die herzliche Beziehung zu Ihnen als Mutter unmöglich geworden ist und er nur noch übelgelaunt und passiv sein kann. Jugendliche sollten doch voller Pläne, Neugier und Ehrgeiz sein.

In der Pubertät findet eine Neuorganisation der Persönlichkeit statt. Eine ganz wichtige Kraft ist dabei das drängende eigene Gewissen. Es nimmt eine verbietende Position gegenüber den erstarkenden sexuellen und aggressiven Wünschen und „unerlaubten“ Gedanken ein, die sowieso per se für die Jugendlichen beunruhigend sind und kontrolliert werden müssen. Ihr Sohn erträgt das eigene, plagende Gewissen nicht, möchte dieses loswerden und projiziert es auf Sie – die Mutter. Infolge dieser Verschiebung erlebt er Sie als Polizist und nicht mehr wie früher als fürsorgliche Mutter. Er meint, Sie wollen ihn kontrollieren, Sie wollen Fehler bei ihm finden, Sie wollen ihn kritisieren. Deswegen will er alles vor Ihnen als Polizist verstecken. Er fühlt sich wie vor Gericht. Was mit der guten Idee begann, das Gewissen, das beständig kritisiert, loszuwerden, ist zu einem Bumerang geworden: Jetzt hat er Angst vor Ihnen, der eigentlich sehr geliebten Mutter, die sich fürsorglich um ihn kümmert! Um nun diese Angst loszuwerden, dreht er die Rollen einfach um und schlägt sich auf die Seite des Aggressors: er identifiziert sich mit seinem Gewissen und kritisiert nun mit unglaublicher Härte seinerseits die Mutter. Das Ergebnis: die Herzlichkeit ist dahin, ständiger Knatsch vergiftet die Familienatmosphäre.

Zeigen Sie ihm, dass er sich immer angegriffen fühlt, auch wenn Sie es gut mit ihm meinen. Am besten erklären Sie ihm den Mechanismus der Identifikation mit dem Aggressor und erklären dazu, dass das eigene Gewissen ihn ständig kritisiere, nicht Sie.

Es geht in der Pubertät vorrangig darum, eine gute Position dem eigenen Gewissen gegenüber zu erobern, eigene Wünsche zulassen zu können und sich zu trauen, dem eigenen Gewissen zu widersprechen. Und nicht darum, sich mit den Eltern zu streiten.

Die Eltern sollten Helfer sein beim „Umbau“ der Psyche und darauf hin arbeiten, dass das Gewissen nicht den dominanten Platz erhält. Sie sollen im Umgang mit dem urteilenden Gewissen für Milde und Nachsicht plädieren.

 

 

 

Elisabeth Geiger 2009