Identifikation mit dem Aggressor
Das psychische System hat eigene Funktionsregeln. Das oberste Prinzip ist, dass unangenehme Gefühle wie Angst, Scham, Schuld, Neid, Eifersucht vom Bewusstsein ferngehalten werden sollen. Um dies zu gewährleisten, werden Abwehrmechanismen eingesetzt. Die Projektion sorgt dafür, dass eine unangenehme Gefühlslage nach aussen verschoben wird, sie wird dem andern zugeschrieben. Die Identifikation sorgt dafür, dass angenehme Gefühle dem Ich einverleibt werden. Es verhält sich etwa so, wie es die Kinder auch mit dem Essen machen: Was ihnen schmeckt, schlucken sie herunter, was ihnen nicht schmeckt, wird ausgespuckt.
Ein Spezialfall ist die Identifikation mit dem Aggressor, also mit einer Figur, die Angst macht.
Hier ein Beispiel von Anna Freud, 1936, S.116: „Sie (ein kleines Mädchen) traut sich nicht, das Vorzimmer der Wohnung zu durchqueren; die Dunkelheit macht ihr Gespensterangst. Aber sie erlernt es einmal plötzlich und ist jetzt imstande, den gefürchteten Raum mit allerlei sonderbaren Bewegungen zu durchlaufen. Nach kurzem teilt sie ihrem kleinen Bruder triumphierend mit. „Du brauchst dich im Vorzimmer nicht zu fürchten“, sagt sie. „Du musst nur spielen, dass du selber der Geist bist, der dir begegnen könnte.“ Ihre magischen Gebärden dabei erklären sich offenbar als die von ihr vermuteten Bewegungen der Geister.
Alle Kinder kriegen Angst, wenn die Eltern mit ihnen schimpfen, sie kriegen auch Angst, wenn sie nur vermuten, dass die Eltern mit etwas unzufrieden sein könnten. In diesen Fällen ist die Identifikation mit dem Aggressor sehr beliebt. Das Kind spielt den wütenden Elternteil, vor dem es Angst hat: es schaut böse, spricht nicht mehr oder schimpft seinerseits mit dem Elternteil, wie wenn dieser die fehlbare Person wäre.
Vorteile für das Kind: es spürt die Angst nicht mehr, an die Stelle der Angst ist die Wut getreten, das ist eine viel angenehmere Empfindung: man fühlt sich dabei stark. Ein weiterer Vorteil davon ist, dass man keinen Grund mehr sieht, sein Verhalten zu korrigieren.
Nachteile: die Beziehung ist nicht mehr herzlich, es gibt Knatsch. Man braucht die andern, sie müssen die Herzlichkeit für das Kind wieder herstellen. Es kommt selbst nicht aus dieser vorwurfsvollen Haltung heraus, weil es dann gleich wieder die Angst spüren würde.
Es ist sich selbst entfremdet, es spürt ja ein Gefühl, das nicht das eigene ist. Glücklichsein ist so nicht möglich.
Das Kind ist in dieser Haltung schwer erziehbar. Die Angst, die Liebe der Eltern, später der Lehrer oder der Freunde und der Partner zu verlieren, ist ein ganz wichtiger Motor, sich zu einem sozialen Wesen zu entwickeln. Wenn dieser wegfällt, kann man tun und lassen, was man will.
Oft denken Eltern, das Kind habe einen besonders starken Eigenwillen, es wolle seinen Kopf unbedingt durchsetzen, im schlimmsten Fall wird diese Haltung mit Stärke verwechselt. In Wahrheit ist die Identifikation mit dem Aggressor ein Gefängnis: Aus Angst vor der Angst muss am Bösesein, am Vorwurf an die andern festgehalten werden. Es hat keinen Platz mehr für Freude, für Herzlichkeit, für Begeisterung und Neugier.
Es gibt viele Menschen, die daraus einen Charakter entwickelt haben: Immer unzufrieden, immer nörgelnd und verurteilend. Nicht gerade das, was man als Ziel der Erziehung formulieren möchte.
Das Fazit: Wir müssen gut darin werden, den Kindern aus dieser Gefühlslage heraus zu helfen! Es ist gar nicht so schwierig. Man sagt dem Kind: „Du machst so ein böses Gesicht (oder Du schimpfst so) wie das Mami (oder wie Du denkst, das Mami würde). Ich glaube, Du hast Angst vor mir, wenn ich schimpfe oder wütend werde und machst gleich selbst so ein Gesicht, dann fürchtest Du dich weniger.“
Man kann als Illustration die obenstehende Geschichte vom Mädchen, das den Geist spielt, erzählen.
Die Kinder widersprechen, oft laut und böse, sie hätten keine Angst. Man muss ruhig bleiben und sicher, es gibt keine andere Erklärung für das Verhalten, es soll die Angst wegdrücken. Gut ist, wenn man einen Ausweg vorschlagen kann.
Ein Beispiel: Nach einem friedlichen Spaziergang kommt man nach Hause, der Vierjährige zieht im Korridor seine Schuhe aus und kickt sie an die Wand, anstatt sie an den richtigen Platz zu stellen. Die Mutter sagt, er solle die Schuhe richtig versorgen. Er weigert sich, sagt trotzig nein. Die Mutter wird bestimmter, er schreit die Eltern an: „Ihr müsst ohne Essen ins Bett, ihr müsst ins Gefängnis, Du bist nicht mehr meine Mutter“ etc. Er wiederholt diese Drohungen, ist ganz ausser sich. Die Mutter sagt ihm, sie glaube nicht, dass er wütend auf sie sei, sondern dass er Angst habe davor, die Mutter sei wütend auf ihn, weil er die Schuhe nicht richtig aufräumte. Er verneint das und fährt mit seinen Drohungen weiter. Die Mutter bleibt ruhig, beharrt auf ihrer Sicht, er habe eigentlich Angst. Erst als sie ihm sagt, es sei doch ganz einfach, er solle jetzt die Schuhe aufräumen, dann könnten sie wieder friedlich zusammen spielen, reagiert er. Er stellt die Schuhe an den richtigen Ort. Jetzt können die beiden wieder friedlich spielen.
(Elisabeth Geiger 2009)